Im Laufe seiner Aufdeckungen ist Herr Dick Marty zweifellos eine der weltweit am meisten respektierten politischen Persönlichkeiten geworden. Im November 2005 ist der ehemalige Schweizer Staatsanwalt Dick Marty vom Europarat beauftragt worden, zu den CIA-Entführungen und den CIA-Geheimgefängnisse in Europa zu ermitteln. Im August 2007 wurde er beauftragt, zu den „Terrorlisten“ zu ermitteln, die von der UNO erstellt und verwaltet werden. In seinen Berichten hat er bewiesen, dass dieses unter Verletzung des Völkerrechts geschieht. Ununterbrochen ruft er seitdem die Europäische Union auf, die „Menschenrechte in den zukünftigen Anti-Terrormassnahmen“ zu gewährleisten. (*)
Dick Marty
Silvia Cattori : Welche Lehren kann man aus Ihren Ermittlungen ziehen und aus den Hindernissen, auf die Ihre Empfehlungen immer stossen?
Dick Marty : Diese Ermittlungen sind im November 2005 beschlossen worden, als „Human Right Watch“ (HRW) und die „Washington Post“ die Existenz der CIA-Geheimgefängnisse in den europäischen Ländern enthüllt haben. Der Generalsekretär des Europarats hat sofort ein Ermittlungsverfahren eröffnet, gemäss Artikel 52 des europäischen Menschenrechtsabkommens, denn falls die Existenz der Geheimgefängnisse bestätigt würde, wäre das eine offensichtliche Verletzung dieses Abkommens.
Ich war gerade zum Präsidenten der Rechtskommission und der Kommission für Menscherechte vom Europarat gewählt worden. Man war der Ansicht, dass der Ermittlungsauftrag zu diesen Behauptungen mir obläge. Wir haben uns gleich an die Arbeit gemacht und eine ganze Menge von Sorgen bereitenden Dingen entdeckt.
„Eurocontrol“ (European Organisation for the Safety of Air Navigation) sowie eine Gruppe von Leuten, deren Hobby es ist, Flugzeuge zu beobachten, die auf Flughäfen landen, haben uns interessante Informationen mitgeteilt [1]. Wir konnten die Art und Weise rekonstruieren, mit der das System der „ausserordentlichen Überstellungen“ („extraordinary renditions“) funktionierte, [2] wie Personen entführt und von einem Land ins andere transportiert wurden.
Bei Abgabe unseres Berichts im Juni 2006 konnte man die Existenz von Geheimgefängnissen in Europa noch nicht bestätigen. Man konnte aber bereits auf eine Reihe konkreter und übereinstimmender Indizien Bezug nehmen, die darauf schliessen lassen konnten, dass die Behauptungen von „HRW“ und der „Washington Post“ exakt waren. Man hat mich darum gebeten, die Ermittlung fortzusetzen.
Präsident Bush hat am 6. September 2006 die Existenz dieser Geheimgefängnisse zugegeben und sie gerechtfertigt. Wer einige Monate vorher sagte, mein Bericht sei nichtssagend, ist sich da bewusst geworden, dass ich die richtige Richtung einschlug. Bedenken Sie bitte, dass „HRW“ und die „Washington Post“ wussten, dass sich in Polen und in Rumänien Gefängnisse befanden. Nach einer Absprache mit dem Weissen Haus hatten sie aber darauf verzichtet, dieses zu enthüllen. Wahrscheinlich hat man ihnen gesagt: „Wenn Sie die Namen nennen, riskieren diese Länder Repressalien von Al-Qaida“.
Uns ist es dieses Mal gelungen, eine Reihe von Mechanismen aufzudecken. Der wichtigste Bestandteil war die Entdeckung, dass die USA von ihren Partnern am 2. Oktober 2001, auf einer geheimen Sitzung in Athen, die Anwendung von Artikel 5 des Nordatlantikpakts verlangt haben. Man muss wissen, dass dieser Artikel alle Mitgliedstaaten des Pakts zwingt, einem anderem Mitglied Beistand zu leisten, das einem militärischen Angriff ausgesetzt ist.
Wenn sich ein Verfahren des NATO-Pakts in Bewegung setzt, gibt es zum Schutz von Geheimnissen ein System auf sehr hohem Niveau. Nur die Militärgeheimdienste und die absolut unerlässlichen Personen, die mit diesem Vorgang verbunden sind, werden informiert. Sogar die Regierungen werden nicht auf dem Laufenden gehalten. Es ist das Prinzip des „Who need to know“. Es blieb geheim, was auf diesem Treffen in Athen diskutiert worden ist, und deshalb schweigen die europäischen Länder. Diese Entdeckung hat uns erlaubt zu beweisen, dass die NATO von Anfang an in dieses Programm von Entführungen und Geheimgefängnissen verwickelt war.
Die Anwendung des Artikels 5 des Nato-Paktes hat eine ganze Reihe von Konsequenzen mit sich gebracht. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 konnte die CIA ihre Macht wie nie zuvor erweitern. Wir haben entdeckt, dass es eine enge Zusammenarbeit zwischen der CIA und den europäischen Militärgeheimdiensten gab, obwohl die Regierungen das bestritten.
Wir haben zahlreiche Informationen über die Existenz eines Programms erhalten, welches von CIA-Agenten erstellt wurde, genannt „High value detainees“. Dieses Programm schickte die wichtigen mutmasslichen Terroristen nach Polen und die weniger wichtigen nach Rumänien, Guantanamo, Abou Ghraib und Afghanistan. Wir konnten einige ihrer Aktivitäten auf äusserst detaillierte Art und Weise rekonstruieren, was uns zum Beispiel erlaubt hat wahrzunehmen, wie die polnischen Militärdienste die Daten der Flüge frisiert haben, um zu verheimlichen, dass CIA-Flugzeuge auf den Militärstützpunkten gelandet waren.
Obwohl wir keine Ermittlungsvollmacht hatten, haben wir dank „whistleblowers“ d.h. dank der Aussagen von Leuten, die innerhalb der Nachrichtendienste arbeiten, spektakuläre Ergebnisse erzielt.
Ich hatte geahnt, dass die Regierungen unsere Anträge nie beantworten würden und hatte den Europarat um Erlaubnis gebeten, die Aussagen anonym zu erhalten. Diese Garantie hat sich als sehr wertvoll erwiesen. Es gab ein wahres Vertrauensverhältnis mit den Leuten, die uns Informationen geben wollten, denn sie fühlten sich geschützt. Das war ein positiver Faktor. Auf beiden Seiten des Atlantiks teilten uns Personen, die manchmal hohe Ämter an der Hierarchiespitze ausübten, Geheimnisse mit, obwohl sie kein persönliches Interesse daran hatten. Sie taten es, weil sie dachten, dass die Strategie von Herr Bush ethisch unannehmbar, fehlerhaft und kontraproduktiv ist. Dieses zeigt uns, dass es innerhalb der CIA Menschen mit einer bemerkenswerten moralischen Statur gibt.
Wir wussten, dass wir wegen möglicher Manipulationen wachsam bleiben mussten. Wir konnten die gesammelten Informationen nutzen, wenn sie aus mehreren Quellen stammten und durch Vergleiche bestätigt waren. Wir hatten die Bestätigung, dass die CIA in Rumänien und in Polen Geheimgefängnisse hatte. Ihre Lokalisierung hat einen wirksamen Einfluss gehabt, denn niemand konnte zuvor so viele Beweiselemente liefern. Unsere Ermittlungen waren für den zweiten Bericht bestimmt, der im Jahre 2007 abgeben wurde. Ein anderes positives Element ist: Zwei Drittel der Parlamentarischen Versammlung des Europarats haben diesem Bericht zugestimmt.
Silvia Cattori : Wir hätten die Existenz von diesen illegalen Folterzentren nie gekannt, wenn es von Seiten der Geheimagenten kein Durchsickern von Informationen gegeben hätte!?
Dick Marty : Es gab derart viele beteiligte Personen, dass man diese Angelegenheit auf Dauer nicht hätte geheim halten können. Aber ohne dieses Durchsickern von Informationen hätten wir nicht so einen hohen Präzisionsgrad erreichen können.
Das Bedauerliche an dieser ganzen Geschichte ist die Haltung der europäischen Regierungen, die in dieser bedrohlichen Situation nicht reagiert haben, wie sie hätten sollen. Dieser Aspekt ist sehr enttäuschend und hält an.
Menschen sind in europäischen Ländern unrechtsmässig entführt worden. Sie sind gefangen gehalten worden, ohne präzise Anklagen, ohne öffentlichen Prozess, ohne sich verteidigen zu können, und was noch schlimmer ist: Es gibt heute entführte und gefolterte Personen, die versuchen, für das erlittene Unrecht einen Schadensersatz zu erhalten, nachdem sie freigelassen wurden, weil man ihnen nichts vorwerfen kann. Was machen die Regierungen? Sie führen das Staatsgeheimnis an.
Es gibt das Beispiel des Staatsanwalts von Mailand, Armando Spatarro, der eine bemerkenswerte Arbeit geleistet hat. Er hat die 25 CIA-Agenten, die an der Entführung von Abou Omar teilgenommen haben, identifiziert [3]; sowie auch die Agenten des italienischen Militärgeheimdienstes, die diese Machenschaften ermöglicht haben.
Und was macht heute die Regierung von Romano Prodi, zusammen mit Persönlichkeiten aus der Linken, wie Massimo d’Alema? Sie behindert die Arbeit des Gerichts, wie Silvio Berlusconi gestern - weil er meint, dass „höhere Staatsinteressen auf dem Spiel stehen“. Alle Regierungen missbrauchen den Begriff des Staatsgeheimnisses.
Dieselbe Feststellung kann man über die Missbräuche machen, die der deutsche Khalid El-Masri erlitten hat. Seine Geschichte ist unglaublich. In seinem Fall erlaubten auch die Informationen, die wir gesammelt hatten, der Staatsanwaltschaft von München, die CIA- Agenten zu identifizieren, die El-Masri entführt hatten.
Auf Hinweis der deutschen Geheimdienste wurde El-Masri in Makedonien entführt und nach Afghanistan deportiert. Er wurde nach Albanien zurückgebracht und in freier Natur ausgesetzt, als diese Geheimdienste bemerkten, dass es sich nicht um den Mann handelte, den sie suchten. Er kam total zerstört nach Deutschland zurück und beschrieb, was er erlebt hatte, doch die Presse hat ihn fertig gemacht und niemand hat ihm geglaubt.
Es gab keine einzige Beschuldigung gegen El-Masri. Als er eine Zivilklage um Schadenersatz einreichte, haben die Vereinigten Staaten hervorgehoben, dass Staatsinteressen und die Interessen des US-amerikanischen Volkes auf dem Spiel waren und dass man deshalb keine Akte anlegen konnte. Er hat sich an den Obergerichtshof gewandt.
Ich bin an diesem Gerichtshof gewesen und habe mich dafür eingesetzt, dass es kein Staatsgeheimnis gibt, weil schon alles öffentlich sei. Die Mehrheit der Mitglieder des Obergerichthofs hat darauf bestanden, dass es ein Staatsgeheimnis gibt und dass es nicht aufgehoben werden kann. Der einzige Trost war: Die „New York Times“ hat diese Haltung als schändlich qualifiziert.
Silvia Cattori : Die höchsten Behörden waren also über die illegalen Handlungen der CIA auf ihrem Territorium auf dem Laufenden?
Dick Marty : Die Haltung der europäischen Regierungen ist meine grosse Enttäuschung! Ich musste warten, bis ich sechzig wurde, um die Schlussfolgerung zu ziehen, dass diese Abgeordneten zu jeder Gelegenheit von Menschenrechten und Rechtsstaat reden, aber schweigen, wenn es darum geht, sie anzuwenden.
Ich stelle fest - und das gilt auch für die Schweiz -, dass es zwischen den Verkündigungen der wundervollen Prinzipien und ihrer Anwendung noch eine riesige Kluft gibt. Es sind immer die momentanen wirtschaftlichen Interessen, die vorherrschen, und nicht unsere Werte. Europa hat Passivität, Bereitwilligkeit und eine Feigheit gezeigt, die mich zutiefst angewidert haben.
Niemand will offensichtlich in dieser Angelegenheit der Administration von Washington gegenübertreten. Leider denkt man, die Vereinigten Staaten seien so wichtig, dass die Interessen wichtiger sind als Beziehungen, die auf moralischen Werten basieren. Natürlich riskiert man einige Unannehmlichkeiten, wenn man sich gegen die US-Administration wehrt! Aber ich halte daran fest, dass wir auf Dauer nur siegreich sein können.
Silvia Cattori : Die gewöhnlichen Bürger teilen wahrscheinlich weitgehend mit Ihnen dieses Ekelgefühl?
Dick Marty : Ich stelle fest, das die Abgeordneten, sobald sie in der Regierung sind, sich überall auf eine unannehmbare Art und Weise benehmen. Wir erleben im Moment eine ziemlich beunruhigende Zeit, wo die Exekutive sich Vollmachten zum Schaden der Parlamente anmasst. Die Parlamente sind durch die Fehler der Parlamentarier, die sich unterwerfen, sehr geschwächt. Sei es wegen des Einflusses von Gruppen, die Druck ausüben, oder weil sie mehr über ihre kurzfristigen Interessen besorgt sind.
Die Regierungen interessieren sich nicht für die Förderung einer unabhängigen Justiz. Sie mögen es nicht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sie an ihre Verpflichtung erinnert. Die Justiz ist in einem jämmerlichen Zustand; man gibt ihr nicht die Mittel, die ihr zusteht. Die Staatsanwälte und Richter, die widerstehen möchten, können nicht viel unternehmen.
Der Fall von Italien ist informativ. Als es sich ergab, dass die Berlusconi-Regierung in die Affäre der illegalen Entführungen verwickelt war, protestierte die Opposition und berief sich auf die Prinzipien des Rechtstaats. Als die Prodi-Regierung an die Macht gekommen ist, verhielt sie sich noch beklagenswerter. Die Persönlichkeiten, die das Staatsgeheimnis kritisierten, auf das sich Silvio Berlusconi berufen hatte, machen nun das Gleiche. Ich finde es inakzeptabel! Wenn unsere Gesellschaften unfähig sind, ihre Priorität den Werten zu gewähren, gehen sie in Richtung einer sehr dunklen Zukunft.
Silvia Cattori : Sollten diese Themen, die den Rechtstaat betreffen, nicht länger von den Parteien debattiert werden?
Dick Marty : Sie müssten erstmal ein Interesse dafür zeigen. Seit Beginn meiner Ermittlung über die Geheimgefängnisse habe ich bitter die Tatsache erlebt, dass die politische Klasse mich als eine Art von Don Quichotte, der gegen Windmühlen kämpft, angesehen hat.
Ich habe nie den Eindruck gehabt, etwas Besonderes zu tun. Ich habe nur meine Pflicht getan. Ich habe das Privileg gehabt, lange das Amt eines Staatsanwalts innezuhaben. Als Staatsanwalt gehorcht man hauptsächlich seinem Gewissen und dem Gesetz. Ich habe niemals verheimlicht, dass vor meiner Partei mein Gewissen existiert; und habe immer gesagt, dass ich in einem Konfliktfall immer meinem Gewissen folgen würde.
Silvia Cattori : Aus diesem Grunde besitzen Sie also diese Einsatzbereitschaft?
Dick Marty : Und diese innerliche Unabhängigkeit, die bedrückend sein kann, wenn man sich alleine fühlt. Ich muss zugeben, dass ich mich oft während dieser Ermittlung isoliert gefühlt habe. Aber zum Glück kann ich der Einsamkeit widerstehen. Ich habe eine ziemlich solide innere Struktur, eine persönliche Geschichte, die mir helfen kann, die Hindernisse zu überwinden.
Silvia Cattori : Sie haben oft die Reaktionslosigkeit der Schweizer Behörden über dieses Abgleiten bedauert. Warum ist die Aussenpolitik der Schweiz tadelnswert?
Dick Marty : Eines ist sicher: Es gab in der Schweiz Leute, die darüber wussten was passierte. Die, die innerhalb der Auskunftsdienste die Verantwortung tragen, waren informiert. Aber ich denke nicht, dass es der gesamte Bundesrat wusste.
Ich habe immer eine gewisse Vorstellung von der Schweiz gehabt, nein, keine „Ausnahme“, aber die Vorstellung von einem Land, das eine besondere Rolle auf der internationalen Bühne innehat, die Vorstellung von einer Schweiz, einem kleinen neutralen Land, mit seiner besonderen Geschichte, Depositarstaat der Genfer Konventionen und der Ausgangspunkt der Gründung des Internationalen Roten Kreuz.
Wenn ich betone, dass die Schweiz viel determinierter und mutiger in der Verteidigung ihrer Werte sein sollte, erwidert man mir, dass Aussenpolitik auch und vor allem die Verteidigung der Interessen der Schweiz sei. Die Schweizer Banken müssen in den Vereinigten Staaten arbeiten können, wir müssen Freihandelsabkommen erzielen. Ich bin mir gewiss dessen bewusst. Ich kannte mich auf diesem Gebiet aus und ich bin Staatsanwalt und Mitglied der Kantonalregierung gewesen. Ich bin daran gewöhnt gewesen, mich mit diesen Problemen zu konfrontieren!
Silvia Cattori : Die Schweiz hat also Gelegenheiten verloren, ihr Bestes zu tun?
Dick Marty : Ja. Ich weiss, dass der Schweizer Botschafter Peter Maurer die Affäre der „Schwarzen Listen“ verfolgt [4]. Aber er tut es als Diplomat, an der UNO. Ich denke, unsere Diplomatie hätte sich seit langem dazu bekennen sollen, dass man den Terrorismus nicht bekämpfen kann, indem man einer Strategie folgt, die nicht die Gesetzgebung respektiert.
Die Absurdität dieses ganzen Krieges ist, dass man Menschen, die man zuvor als Kriminelle bezeichnete, in Opfer, in ein Objekt der Ungerechtigkeit umgewandelt hat. Deshalb sagte ich im Januar 2008 in meinen Bericht in Strassburg, dass der Hauptverbündete des Terrorismus die Ungerechtigkeit ist.
Man kann auf keine Terrordrohung mit Massnahmen antworten, die in Widerspruch zur Justiz stehen. Man ist dabei, die gemässigte muslimische Bevölkerung zu ermuntern, zum Fundamentalismus überzutreten, indem man Muslime ausserhalb des gerichtlichen Systems inhaftiert. Eine katastrophale Politik, wie der Krieg gegen den Irak, der durch Lügen gerechtfertigt wurde, katastrophal ist. Wie die Bombardierungen auf den Libanon katastrophal sind: Jeden Tag treten Kinder auf Splitterbomben, die die israelische Armee überall verstreut hat und sie werden verstümmelt.
Diese Antworten bekommen wir von unseren Regierungen! Ich bin zutiefst schockiert zu wissen, dass man auf diese Art und Weise handelt und dass die Parlamentarier sich allgemein wenig um diese gravierenden Probleme kümmern.
Silvia Cattori : Wenn die Parlamente ein echte Gegenmacht ausüben würden, würde diese Kollusion zwischen den europäischen Regierungen und den Vereinigten Staaten nicht stattfinden?
Dick Marty : Das ist ein guter Grund dafür, warum ich die europäischen Abgeordnete härter zu Gericht ziehe. Die USA haben eine falsche strategische Entscheidung getroffen, aber sie stehen zu ihrer Entscheidung und verteidigen sie. Was mich bei den Europäern irritiert ist, dass sie noch nicht einmal den Mut haben, zu dieser falschen strategischen Entscheidung zu stehen, mit der sie kollaborieren. Sie haben noch nicht einmal dieses Ehrgefühl.
Diese Lüge und diese Feigheit betrachte ich als unerträglich und das ist der Grund, weshalb ich mehr über die Haltung der europäischen Regierungen empört bin. Sie sagen ihren Bürgern nicht die Wahrheit. Wenn sie sagen: „Das, was wir machen, ist gerecht, denn die Gesetzgebung und die Justiz helfen nicht gegen Terror; die Genfer Konventionen beziehen sich auf klassische Kriege und nicht auf einen asymmetrischen Krieg, deshalb mussten wir etwas Neues erfinden.“ Ich verpasse nie eine Gelegenheit ihnen zu sagen, dass sie aus meiner Sicht auf einem falschen Weg sind.
Die Behörden haben nicht den Mut gehabt, zu ihrer Teilnahme an den geheimen CIA-Entführungen zu stehen. Ich bin überzeugt, dass wir noch nicht alle Affären kennen, es wird noch andere geben.
Als ich 2006 angezeigt hatte, dass die Insel Diego Garcia benutzt worden war, um Leute in Geheimgefängnisse zu transportieren, hatte Herr Tony Blair es geleugnet: „Das ist absolut falsch, wir haben so etwas nie getan.“ Der ehemalige britische Minister für europäische Angelegenheiten hatte über meinen Bericht gespöttelt, indem er sagte „dass der Bericht voller Löcher sei, wie ein Schweizer Käse“. Der britische Aussenminister David Miliband hat sich im Februar 2008 entschuldigen müssen und hat zugegeben, dass „Flugzeuge auf Diego Garcia gelandet waren.“ [5]
Silvia Cattori : Es ist nicht ermutigend zu wissen, dass europäische Länder der CIA die Logistik zur Verfügung gestellt haben, die ihnen erlaubten Verdächtige einzusperren und zu foltern!?
Dick Marty : Ich empfinde ein Gefühl des Unbehagens, mich darüber äussern zu müssen. Ich behaupte nicht, immer Recht zu haben. Ich habe immer versucht, die Tatsachen frei zu analysieren. Ich habe versucht und versuche es immer noch, meine Arbeit auf ehrliche und unabhängige Art und Weise auszuführen. Was ich entdeckt habe, hat mich zutiefst schockiert und meine Einschätzung sehr geändert.
Silvia Cattori : Ohne Ihre Entschlossenheit hätten wir vielleicht auch niemals etwas über die Existenz der „Schwarzen Liste der UNO“ erfahren?
Dick Marty : Diese „Schwarzen Listen“ sind ein immenser Skandal. Ich glaube, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats realisiert hat, dass es in diesem Fall etwas Inakzeptables gibt. Ein britischer Abgeordneter der Konservativen Partei hat erklärt: „Als ich hörte, was Dick Marty über diese Listen sagte, habe ich es nicht geglaubt. Ich habe Nachforschungen bei den britischen Behörden und der Regierung angestellt. Er hat nicht nur Recht, sondern völlig Recht.“ Nur drei Personen haben meinem Bericht widersprochen.
Diese Sanktionen entscheiden sich beim UNO-Sicherheitsrat. Es gibt eine Art von Konsens zwischen den Grossmächten. Es gibt dort ein perverses System. Die Regierungen reagieren auch da nicht. Die UNO reagiert auch nicht, weil die Bush-Administration nicht will, dass diese „Schwarzen Listen“ in Frage gestellt werden.
Den Fall von Herrn Nada habe ich völlig zufällig entdeckt [6]. Ein Arzt, den ich kannte, hat sich 2005 an mich gewandt, weil er dachte, dass ich als Politiker etwas machen könnte, um einem seiner Patienten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es handelte sich um einen Herrn von ägyptischer Herkunft, der seit 30 Jahren in seiner Behandlung war. Als ich seine Geschichte kennen lernte, habe ich es zuerst nicht geglaubt!
Ich habe mich mit Herrn Nada in Verbindung gesetzt, ich präzisierte aber, dass ich mich nicht als Anwalt um ihn kümmern würde, denn ich wollte meine Urteilsunabhängigkeit bewahren. Was er mir erzählt hat, war schlimmer als mein Verstand aufnehmen konnte.
Herr Nada ist zwei Strafermittlungen unterzogen worden. Sein Name wurde auf die „Schwarze Liste“ der UNO eingetragen, ohne dass er darüber informiert wurde. Herrn Nadas Anwalt hat mir die Strafakte zur Verfügung gestellt. Ich habe die Anklagen gelesen, die die Staatsanwaltschaft dazu geleitet haben, die Auflistung von Herr Nada durch die USA auf die „Terrorliste“ in Betracht zu ziehen. Herr Nada wurde wegen angeblicher „Finanzierung der Anschläge vom 11. September“, auf diese Liste eingetragen.
Meine erste Frage war: Warum haben die USA nicht von der Schweiz und von Italien die Verhaftung und die Auslieferung von Herrn Nada erfordert, der in Besitz eines italienischen und eines ägyptischen Passes ist und der in der Schweiz und in Italien lebt, denn sie hätten sie erhalten können?
In den Vereinigten Staaten gab es kein Strafverfahren gegen ihn. Warum haben sie also die Schweizer und die Italiener dazu getrieben, ein Strafverfahren einzuleiten? Weil Herr Nada der Besitzer einer Bank in der Schweiz war. Indem sie erreichten, dass die Schweizer Justiz die Ermittlung einleitete, erhofften die Vereinigten Staaten, alle Dokumente zu beschlagnahmen.
Als der Schweizer Staatsanwalt die Vereinigten Staaten nach dem Beweis gefragt hat, auf den die USA ihre Anklage stützt, kam einzig - und das macht den Sachverhalt noch halluzinatorischer - ein Artikel aus der „Corriere della Sera“, der behauptete, dass die Bank von Herrn Nada „60 Millionen der Hamas-Bewegung überreicht hat“. Nichts ist ausfindig gemacht worden, das dieses beweisen könne. Herr Nada war eine einflussreiche Persönlichkeit im Mittleren Osten, und gewiss wurde er von Israel nicht als Freund betrachtet; aber reicht das aus, um einen Terroristen aus ihm zu machen?
Die Schweizer Bundesanwaltschaft hat nach dreieinhalb Jahren von Ermittlungen kein Belastungsmaterial gefunden. Die Verteidigungskosten von 120,000 Schweizer Franken musste der Schweizer Steuerzahler auf sich nehmen. Das Mailänder Gericht, welches auch eine Ermittlung eröffnet hatte, hat das Verfahren eingestellt, weil Herrn Nada nichts vorzuwerfen war. Zwei Strafgerichtsbarkeiten haben absolut nichts gefunden, was Herrn Nada belasten könnte.
Und doch bleibt der Name von Herrn Nada auf der „Schwarzen Liste“! Die Schweizer Regierung, wie auch die von anderen Ländern, blockieren weiterhin sein Vermögen. Er wurde im November 2001 auf die „Schwarze Liste“ eingetragen und ist immer noch dort.
Alles, was Herr Nada in seinem Leben aufgebaut hat, ist zerstört worden. Das ist die traurige Realität.
Obwohl ich zugebe, dass man die Existenz von diesen „Schwarzen Listen“ rechtfertigen kann, sollten sie nur für eine bestimmte Zeit bestehen. Wir sind derzeit im siebten Jahr der Umsetzung dieser UNO-Sanktionen.
Das Schweizer Bundesgericht hat den Entschluss gefasst, sich nicht für die Aufhebung der „Schwarzen Liste“ einzusetzen und hat darauf die Schweizer Regierung dazu aufgerufen, bei der UNO zu intervenieren, damit der Name von Herrn Nada von dieser Liste gestrichen wird.
Ich habe Frau Calmy-Rey zu diesem Thema angesprochen. Sie antwortete auf meine Interpellation vom Oktober 2005: „Wir müssen die Sanktionen der Vereinten Nationen anwenden“.
Ich hätte von der Schweizer Regierung erwartet, dass sie der UNO sage: „ Entweder legen sie uns klare Beweise vor, andernfalls wird die Schweizer Regierung nicht mehr diese Sanktionen anwenden, weil sie unvereinbar sind mit den grundlegenden Prinzipien der Schweizer Gesellschaft“. Die Schweiz hat ausserdem das Menschenrechtsabkommen ratifiziert, welches dieses verbietet. Frau Calmy-Rey antwortet nun: „Das Völkerrecht ist das UNO-Recht. Es gibt Sanktionen, also müssen sie angewendet werden.“ Das ist eine völlig formelle Anschauung, aber keine erläuternde. Das widerspricht den grundlegenden Rechtstaatsprinzipien.
Silvia Cattori : Wenn Sie empfehlen, die Anwendung der Sanktionen einzustellen, „da sie unvereinbar sind mit anderen internationalen Obliegenheiten“, wird der Vorsitzende vom Sanktionskomitee des UNO-Sicherheitsrats, der Belgier Johan Verbeke, sagen, dass die „Regeln des Gerichtsverfahrens“ nicht anwendbar sind, um gegen Terroristen zu kämpfen. Es wird sich also keine Änderung geben?
Dick Marty : Das ist die Theorie, die gegenwärtig von den Regierungen vertreten wird. Unter dem Deckmantel vom „Kampf gegen den Terrorismus“ kann man irgendwelche Massnahmen durchsetzen. Ich bin mit der Tatsache einverstanden, dass man Mittel benötigt, um den Terrorismus zu bekämpfen. Aber was mich empört, ist, dass es andere Drohungen gibt, die mehr schädigen und gegen die man nicht viel unternimmt. Was unternehmen die Regierungen gegen die Waffenlieferungen oder gegen den Menschenhandel, eine Plage mit mehr Opfern als der Terrorismus?
Man kann die Angst vor Terror-Drohung verstehen, aber mit dieser Angst setzt man illegale Massnahmen durch. Es ist ausserdem für einen Politiker sehr populär zu sagen, dass er „gegen Terrorismus kämpft“.
Aus diesem Grund finden sie nicht sehr viele Abgeordnete, die sich gegen diese Missbräuche auflehnen, denn seinen Wählern zu sagen: „Ich kämpfe ich gegen den Terrorismus“, das ist sehr rentabel. Ich war vor kurzem im Wahlkampf. Mehrere Personen haben mich gefragt, warum ich mich engagiere „die Terroristen zu verteidigen“. Ich habe darauf geantwortet, dass ich die Justiz verteidige, Anhänger eines „sauberen“ Kampfes gegen Terroristen bin, und dass unsere Gesellschaft immer verkündet hat, sie wollte einen Rechtsstaat und ich überzeugt bin, dass es effizienter ist, den Terror mit legalen Mitteln zu bekämpfen.
Am Ende der so genannten „bleiernen Jahre“ in Italien sagte Präsident Pertini etwas, das mich geprägt hat: „Unser Land soll stolz sein, da es den Terrorismus in den Gerichtssälen bekämpft hat und nicht in den Stadien“.
Terrorismus muss man vor allem bekämpften, indem man versucht, die Ursachen zu beseitigen. Wenn eine palästinensische Grossmutter Selbstmord begeht, indem sie einen Sprengstoffgürtel auslöst, sollte man sich Fragen stellen und versuchen zu verstehen, warum Menschen, die man seit Generationen in Flüchtlingslagern eingepfercht hält, zu solchen Verzweiflungsgesten gelangen.
Man soll ein Volk nie demütigen. Die Geschichte lehrt uns, wenn man ein Volk demütigt, rächt sie sich immer.
Die Vereinigten Staaten und Russland sind sich in einer Sache einig: den Terrorismus zu bekämpfen. Aber man sollte dieses Wort genau definieren, denn jeder benutzt es, wie es ihm behagt. Auf internationaler Ebene fehlt eine Definition des Terrorismus.
Die Regierungen blockieren alle Gerichtsverfahren, die von den Geschädigten in die Wege geleitet wurden. El-Masri ist der einzige von diesen gefolterten Menschen, der von einer Regierung Schadensersatz erhalten hat. Aber das ist nur möglich gewesen dank der Mobilisierung der kanadischen öffentlichen Meinung. Während die öffentliche Meinung in Deutschland leider durch eine Skandalpresse konditioniert ist, die El-Masri als Lügner, als Manipulator bezeichnet hatte.
Silvia Cattori : Die gesamten europäischen Länder könnten ihre Ansichten durchsetzen, aber sie tun es nicht?!
Dick Marty : Die Europäische Union hat leider keine gemeinsame Verteidigungs- und Aussenpolitik. Die US-Administration setzt auf die Uneinigkeiten der Europäer.
Silvia Cattori
(*) “Statement by Dick Marty, addressing the Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs of the European Parliament in Brussels”, 7 April 2008 (in Englisch).
Übersetzung aus dem Französischen: Monica Hostettler und Anis Hamadeh
Französische Fassung:
http://www.silviacattori.net/article742.html
Siehe auch den Vortrag von Dick Marty am 1. Februar 2007 an der Universität von Neuenburg (Schweiz) mit dem Titel: "Muss man Tyrannei mit den Instrumenten der Tyrannen bekämpfen ? "
[1] Siehe Planespotter : http://www.planespotter.de/default.php
[2] Die CIA bezeichnet so seit 2001 das Programm der Gefangenenflüge zu Geheimgefängnissen. Menschen, die nie verurteilt wurden, befinden sich in kompletter Isolationshaft. Khaled Abdu Ahmed Saleh al-Maqtari, zum Beispiel, ein jemenitischer Staatsbürger, 31 Jahre alt, war zuerst für 3 Jahre in Abu Ghraib inhaftiert und darauf in einem Gefängnis in Osteuropa. Er verbrachte insgesamt 28 Monate in Isolationshaft. Er wurde geschlagen, erlitt Schlafentzug, war nackt extremer Kälte und Hitze ausgesetzt und der Lärmfolter. Er ist heute psychisch zerstört.
[3] «Italie - 26 agents de la CIA renvoyés devant la justice », LCI.fr, 16. Februar 2007 (auf Französisch).
[4] «’Listes noires’: érosion des libertés fondamentales », Plateforme d’information Human Rights, 5. Februar 2008 (auf Französisch).
Siehe auch auf Deutsch: “Schwarze Listen des UNO-Sicherheitsrats - Bericht von Dick Marty” , 23. Januar 2008.
[5] Zwei „Folter“ Flugzeuge, die Häftlinge transportierten, sind auf dem britischen Territorium Diego Garcia gelandet, wo die Vereinigten Staaten einen Militärstützpunkt haben.
«Dick Marty: le Waterboarding est une forme de torture», News Press, 11. März 2008
Siehe auch auf Deutsch: “Dick Marty: Waterboarding ist eine Foltermethode”, Europarat, 11. März 2008.
“Fresh questions on torture flights spark demands for inquiry”, The Guardian, 10. März 2008.
[6] Siehe: «Official site of Youssef Nada»